8 Minuten Lesezeit Mit Insights von Aud Frese Lead of Health Strategy and Medical Technology aud.frese@zuehlke.com Moritz Gomm Ehemaliger Senior Business Solution Manager Ein entscheidender Faktor für jede Branche, um nachhaltiger zu agieren, sind Produkte und Produktion sowie die Supply Chain. Der Gesundheitsbereich macht da keine Ausnahme. Hier gibt es viel Potenzial – beispielsweise führt der Einsatz von Medizinprodukten zu großen Abfallmengen. So fällt im Krankenhausbetrieb pro Patient sechs Mal mehr Müll an als beim Durchschnittsbürger, erzeugt eine Operation mehr Müll als eine 4-köpfige Familie in einer Woche und werden jährlich tausende Tonnen Edelstahl der Kreislaufwirtschaft entzogen. Gründe für einen stärkeren Fokus von Unternehmen auf das Thema Nachhaltigkeit gibt es mehr als genug. Wir sehen hier vor allem drei Aspekte: Externer Druck durch Gesetzgeber, Kunden, Arbeitnehmer aber auch die damit verbundenen Chancen und nicht zuletzt die eigene Verantwortung, der immer mehr Unternehmen gerecht werden wollen. Wenn wir von Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit Produkten und Produktion im Gesundheitsbereich sprechen, konzentrieren wir uns vor allem auf die Nachhaltigkeitsziele 6 (ausreichend Wasser in bester Qualität), 7 (bezahlbare und saubere Energie), 8 (nachhaltig wirtschaften als Chance für alle), 9 (Industrie, Innovation und Infrastruktur), 10 (weniger Ungleichheiten), 12 (nachhaltig produzieren und konsumieren), 13 (weltweit Klimaschutz umsetzen), 14 (Leben unter Wasser schützen) und 15 (Leben an Land). Konkret geht es in erster Linie um folgende Punkte: weniger Müll weniger CO2 weniger Ressourcenverbrauch allgemein nachhaltigere Rohstoffe (keine/weniger Konfliktmineralien etc) geringere Kosten (und dadurch ein größerer Markt bzw. eine größere Reichweite) Viele Einwegverpackungen statt nachhaltiger Produkte Aktuell erleben wir in unserer Projektpraxis im Gesundheitsbereich einen sehr starken Fokus der Hersteller auf Zeit und Budget. Bei 95% aller Projekte, die bei uns angefragt werden, wird das Thema Nachhaltigkeit noch nicht berücksichtigt. Ganz im Gegenteil: Im klinischen Bereich geht der Trend hin zu mehr Einwegverpackungen, da es sich für Hersteller und Klinikbetreiber eher rechnet. Hier sehen wir in der Branche enorm viel Potenzial, um den eigenen Fußabdruck deutlich zu verringern – ohne dadurch Abstriche bei Produktsicherheit etc. machen zu müssen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt dabei in einer konsequenten Betrachtung des gesamten Produktlebenszyklus unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit. Das ermöglicht es unter anderem, die Bereiche zu identifizieren, in denen schnell Handlungsbedarf besteht. Konkret sehen wir hier vier Ansätze, die auch miteinander kombiniert werden können (und sollen): Eine konsequente Betrachtung der Supply Chain unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit. Der Einsatz von Sustainability Engineering, um Produkte über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg auf Nachhaltigkeit zu optimieren. Eine konsequente Strategie zur Wiederverwertung/Zweitverwertung von Medizingeräten oder Einrichtungsgegenständen. Die Entwicklung von neues Geschäftsmodellen, die beispielsweise auf der Aufbereitung oder Vermietung von Produkten basieren. Der erste Schritt: Life Cycle Assessment Eine Analyse des gesamten Produktlebenszyklus ist der entscheidende Schritt, um eine fundierte Nachhaltigkeitsstrategie zu entwickeln und die nächsten Schritte zu planen. Die Evaluierung der unterschiedlichen Phasen von der Produktion bis zur Entsorgung erlaubt es, die Bereiche zu identifizieren, bei denen die größten Verbesserungen erreicht werden können. Darüber hinaus erlaubt ein fundiertes Life Cycle Assessment es auch, unterschiedliche Szenarien zu entwerfen und zu vergleichen. Diese Quantifizierung der Auswirkungen unterschiedlicher Strategien ist die Grundlage für die Entscheidungen, wo Ressourcen am effektivsten eingesetzt werden sollten, um die Auswirkungen des Produkts auf die Umwelt so weit wie möglich zu reduzieren. 1. Analyse der Supply Chain Die Herkunft von Rohstoffen und Halbzeug bietet viele Möglichkeiten, um die Nachhaltigkeit der eigenen Produkte und Produktion zu steigern. Hier können Hersteller auf eine stetig steigende Zahl an Zertifizierungen zurückgreifen, um sich zu orientieren. Wichtig ist es dabei jedoch auch, die eigenen Lieferanten in die Pflicht zu nehmen. Hier hilft eine gut etablierte Nachhaltigkeitsvision mit konkreten Zielen dabei, das Thema aktuell zu halten. Entscheidend bei der Analyse der Supply Chain ist dabei auch die Transparenz über den „Footprint“ der Vorprodukte. Dabei geht es um Informationen von den Lieferanten aller Ebenen auch mit Blick auf die Arbeitsbedingungen (vgl. Sorgfaltspflichtgesetz) und Lieferrisiken (beispielsweise bei geopolitischen Verwerfungen oder Naturkatastrophen). Hier können Unternehmen mittlerweile aus einer wachsenden Zahl von IT-Tools wählen, die dabei helfen, die Transparenz der eigenen Lieferkette zu gewährleisten. 2. Nachhaltige Produkte dank Sustainability Engineering Sustainability Engineering ist einerseits eine recht neue Disziplin, andererseits beruht es auf der etablierten Methode der Herstellkostenreduktion, indem beispielsweise die Energieeffizienz und der effiziente Einsatz von Rohstoffen in den Blick genommen werden. So, wie bisher Produkte für geringe Produktionskosten optimiert wurden, geht es beim Sustainability Engineering darum, Produkte während ihres gesamten Lebenszyklus von der Produktion bis hin zur Entsorgung für eine höhere Nachhaltigkeit zu optimieren (siehe dazu auch unser Blogpost „Nachhaltige Produkte – Auf diese Kriterien kommt es an“). Wir empfehlen dabei ein Vorgehen nach den folgenden Kriterien: Vermeidung von Schadstoffen: Hier kommt es sowohl auf die verwendeten Materialien als auch auf den Herstellungsprozess an sich an. Ein guter Ausgangspunkt ist dabei eine Analyse der Stückliste der Geräte danach, welche Bauteile Schadstoffe enthalten können. Bei Zukaufteilen sind hier die Einkaufsspezifikationen entscheidend. Wichtig sind darüber hinaus eine komplette Katalogisierung und Analyse des Herstellprozesses an sich. Hier ist oft ein gewisser Pragmatismus gefragt, denn: Nicht alle Schadstoffe lassen sich sofort ersetzen. Ressourcen in Produktion und Vorproduktion verringern: Hier geht darum, auch den Lebenszyklus aller verwendeten Rohstoffe und Halbzeuge in den Blick zu nehmen. So kann beispielsweise bei natürlichen Rohstoffen ein hoher Wasserverbrauch bei der Gewinnung notwendig sein. Andererseits sind diese Stoffe bezüglich des natürlichen Abbaus oft unkritisch. Um alternative Stoffe zu vergleichen, braucht man daher Annahmen von der Recyclingquote beim Verbraucher bis hin zur Verfügbarkeit von Wasser in den Produktionsländern. Einfaches Recycling ermöglichen: Darüber hinaus ist es sinnvoll, das Ende des Produktlebenszyklus in den Blick zu nehmen. Hier ist es beispielsweise sinnvoll, möglichst wenig unterschiedliche Materialien zu verwenden, um das Recycling zu erleichtern. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die demontagegerechte Ausführung von Produktbaugruppen, um die Wartbarkeit und damit die Produktlebensdauer zu erhöhen. Auch das erleichtert das Recycling des Produktes. Gerade im Gesundheitsbereich ist es jedoch nicht immer möglich, Produkte recycelbar zu machen – vor allem, wenn sie bei der Benutzung kontaminiert werden. Sustainability Engineering ist eng verwandt mit Ecodesign: Auch diese Vorgehensweise unterscheidet sich nicht grundlegend von sonstigen Produktentwicklungsprozessen. Ecodesign geht jedoch noch weiter: Das Ziel ist es, den gesamten Produktionsprozess sowie den Produktlebenszyklus ins Auge zu fassen und so zu gestalten, dass alle Beteiligten davon profitieren. Im Zentrum steht also nicht so sehr das Produkt an sich, sondern der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang. Der Designer wird dabei zum Mittler zwischen dem Endkunden, der Umwelt und dem Unternehmen. 3. Nachhaltigere Produkte durch Wiederaufbereitung und Mehrfachnutzung Gerade im Gesundheitsbereich gibt es darüber hinaus noch einen Ansatz, der großen Potenzial für mehr Nachhaltigkeit birgt: Die mehrmalige Nutzung von Geräten und Gebrauchsgegenständen. In einigen Bereichen ist das bereits gelebte Praxis, beispielsweise bei Patientenbetten, Rollstühlen oder vielen Hilfsmitteln. Doch gerade bei Medizintechnik gibt es hier noch viele ungenutzte Möglichkeiten. Hier sind auch neue Geschäftsmodelle für die Hersteller möglich – beispielsweise beim Wiederaufbereiten von Produkten. Ein wichtiger Punkt hierbei ist die leichte Reparierbarkeit der Geräte. Ein interessanter Ansatz, um an diesem Punkt voranzukommen ist die Modularisierung: Hier geht es darum, Produkte oder Systeme so zu konzipieren, dass sie aus austauschbaren Funktionsbausteinen – den Modulen – bestehen. Das Ziel ist ein flexibles System, mit dem verschiedene Varianten eines Produkts erzeugt werden können und gleichzeitig die Anzahl der dazu notwendigen Bauteile reduziert wird. Das bringt, neben der einfacheren Reparierbarkeit, vor allem Vorteile in der Produktion. Umstellung von Einweg- zu Mehrwegartikeln Gerade im Bereich der Pflege gibt es noch eine weitere Möglichkeit, um den Verbrauch von Ressourcen zu reduzieren: Die Umstellung von "Disposables“, also Einweg- hin zu Mehrwegartikeln. Auch solche Re-Use Circles können zu neuen Geschäftsmodellen für die Hersteller führen – etwa durch Abomodelle und Rücknahmeangebote – und unterm Strich sogar die Produktionskosten reduzieren. Gleichzeitig sind auch günstigere Anschaffungskosten für die Endkunden möglich. Wichtig ist es hier allerdings, das Thema Usability und User Experience (UX) zu beachten: Gerade im Krankenhausumfeld kann die Umstellung von Einweg auf Mehrwegartikel auch zu einem größeren Aufwand – und eventuell sogar zu einem höheren Ressourcenverbrauch führen (wenn beispielsweise Geräte aufwendig sterilisiert werden müssen). Gerade deshalb ist es so wichtig, den gesamten Lebenszyklus des Produktes zu betrachten. 4. Neue Geschäftsmodelle Die konsequente Mehrfachnutzung von Geräten und Gebrauchsgegenständen hat sogar das Potenzial für neue Geschäftsmodelle: Ob eine Finanzierung von Medizingeräten über Pay-per-Use-Bezahlmodelle, Pfandsysteme für Mehrwegartikel oder die Wiederaufbereitung von Geräten – wer es schafft, solche Ideen am Markt zu etablieren, der kann Nachhaltigkeit mit Wettbewerbsvorteilen verknüpfen und schlägt damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Hier ist es oft hilfreich, auch jenseits der Grenzen des eigenen Unternehmens zu denken. Viele Geschäftsmodelle lassen sich besser im Verbund realisieren – beispielsweise ein Pfandsystem für die Rücknahme bestimmter Artikel. Nachhaltigkeitsvision ist entscheidend Mehr Nachhaltigkeit im Gesundheitsbereich ist definitiv möglich – und Gründe dafür gibt es genug. Was es dazu braucht, ist allerdings ein wenig mehr Mut an der einen oder anderen Stelle und die Fähigkeit, in neuen Bahnen zu denken. Der entscheidende Erfolgsfaktor ist es aber, das Thema Nachhaltigkeit konsequent im gesamten Unternehmen zu implementieren. Die Basis hierfür ist eine fundierte Nachhaltigkeitsvision (siehe hierzu auch unseren Blogpost "Warum MedTech- und Pharmaunternehmen 2023 eine Nachhaltigkeitsvision brauchen"). Weitere Blogposts aus unserer Serie "Nachhaltigkeit im Health Ecosystem": Drei Gründe, warum MedTech- & Pharmaunternehmen 2023 eine Nachhaltigkeitsvision brauchen Wie digitale Technologien Healthcare-Unternehmen nachhaltiger machen Nachhaltigkeit im Gesundheitssektor: Die Macht der Daten Ansprechpartner für Deutschland Aud Frese Lead of Health Strategy and Medical Technology Aud Frese kam 2020 als Lead of Health Strategy and Medical Technology zu Zühlke und ist seit 2024 zudem Teil des EMEA Health Leadership Teams. Ihr Fokus liegt auf dem Gebiet der digitalen Innovationen, Businessstrategien und Produktentwicklung. Aud Frese hat Medizininformatik studiert und verfügt über langjährige Erfahrungen in der Medizintechnik und dem Gesundheitsbereich. Kontakt aud.frese@zuehlke.com +49 1522 435 8501 Schreiben Sie uns eine Nachricht You must have JavaScript enabled to use this form. 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