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Warum MedTech-Unternehmen Produktentwicklung verlernen – und was dagegen hilft

Fahrradfahren kann man angeblich nicht verlernen. Bei der Produktentwicklung sieht das leider anders aus. Lange Lebens- und Vermarktungszyklen stellen vor allem die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen mittelständische Medizintechnikunternehmen vor Herausforderungen: Die Mitarbeitenden sollen nach Jahren der intensiven Arbeit an iterativen Verbesserungen auf einmal eine vollkommen neue Gerätegeneration entwickeln – idealerweise auf Basis der neuesten Technologien und ausgerichtet auf die zukünftigen Bedürfnisse der Kunden und Nutzer.

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Das Umschalten zwischen diesen beiden Arbeitsweisen – Produktpflege und Produktentwicklung – sorgt in vielen Unternehmen für beträchtliche Reibungsverluste und bei den Mitarbeitenden für Stress und Frustration. 

Die Lösung: Eine agile Produktentwicklung kann dabei helfen, die passenden Arbeitsweisen für die Phasen der Produktpflege und für Phasen der Neu-Entwicklung zu finden und die nötigen Skills im Team aufrechtzuerhalten.

Herausforderungen für MedTech-Unternehmen

Was Medizintechnik von kurzlebigen Consumer-Produkten unterscheidet: Die Entwicklung eines neuen Produkts mit innovativen Funktionen oder Technologien kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Solche Projekte sind investitionsintensiv und die entwickelten Produkte haben daher in der Regel auch lange Vermarktungszyklen. 

Viele Unternehmen in der Medizintechnik sind mittelständisch – in Deutschland beispielsweise über 90%. Die Finanzierung und Umsetzung großer Entwicklungsvorhaben stellt für sie eine große Herausforderung dar. Aus diesem Grund fokussieren viele dieser Unternehmen zumeist auf die Entwicklung einer einzigen Produktlinie, während andere Produkte durch ein Lifecycle-Management am Markt gehalten werden. Wenn eine Gerätefamilie nach der Entwicklung 15 Jahre oder länger am Markt ist, ist das daher nicht ungewöhnlich. In dieser Zeit beschäftigen sich die Entwicklungsteams mit Optimierungen und punktuellen Erweiterungen oder sie reagieren auf Bauteil-Abkündigungen.

Eine Folge, die ich dabei häufig beobachte: Teams bleiben in der Produktpflege gefangen und verlieren dabei die Fähigkeit, neue Produkte von Grund auf zu entwickeln. Denn es bestehen zentrale Unterschiede zwischen Produktpflege und Neuentwicklung.

Produktpflege: Stabilität und Spezialisierung

Bei der langjährigen Produktpflege ist das Ziel die Erhaltung und Optimierung bestehender Produkte. Dies umfasst kleinere Korrekturen, Updates und auch Funktions-Verbesserungen, wie etwa die Integration neuer Technologien, die Anpassung an geänderte regulatorische Anforderungen oder den Austausch abgekündigter Komponenten. Die Arbeitsweise und Kompetenzen des F&E-Teams passen sich an dieses stabile und bekannte technische Umfeld an. Das Team arbeitet hauptsächlich in überschaubaren und eher kurzen Aufgabenzyklen. 

Natürlich werden die Arbeitsweisen im Alltag daraufhin optimiert: Die Mitarbeitenden bauen über Jahre ein exzellentes Verständnis zum Produkt und die technologische Umsetzung auf. Sie kennen sich in Details aus und können auf Wünsche schnell reagieren und sachgerechte Vorschläge machen. Dieser hohe Grad an Spezialisierung hat jedoch einen hohen Preis.

Zwei Beispiele aus meiner Erfahrung:

  • Veraltete Tools, verlorenes Know-how

    Ein Unternehmen hatte vor über 10 Jahren eine Analyse-Software erstellt und als Add-On für ihr Diagnostik-Gerät an Kunden abgegeben. Seither wurde die Software am Leben gehalten – aber eher wie ein Koma-Patient. Das Team konnte vor allem Sprachunterstützungen und Chargenparameter ergänzen und freigeben. Es wurden weder die Programmiertools noch die verwendeten Bibliotheken aktualisiert.

    Auch  die Arbeitsmethoden im Team entsprechen nicht den heutigen Standards: Best Practices des Software Engineerings wie Continuous Integration, UI & Integration Testing, automatisierte Unit-Tests, ein reifes Versionierungssystem wie GIT, usw., sind an dieser Software spurlos vorübergegangen. Die hohe Fluktuation junger und qualifizierter Fachkräfte in diesem Bereich ist dabei möglicherweise Folge und Symptom zugleich.

  • Wenn die Prozesse stimmen, aber die Richtung fehlt

    Ein andere Unternehmen vertreibt seit über zehn Jahren eine Familie von klinischen Monitoren und entwickelt diese kontinuierlich weiter. Neben dem Austausch von abgekündigten Bauteilen werden regelmäßig Software-Erweiterungen, Zubehörkomponenten und Sensoren entsprechend den Anforderungen großer Tender ergänzt.

    Die Arbeitspakete haben für sich genommen einen eher begrenzten Umfang. Sie finden in penibel ausdefinierten Arbeitsprozessen statt, die die Abhängigkeiten zwischen Abteilungen durch zwingende Prozessvorgaben berücksichtigen, und so die Arbeiten für einzelner Mitarbeiter in der F&E optimieren.

    Symptomatisch ist hier, dass dennoch die übergreifende Planungssicherheit fehlt und dass Blockaden an den Schnittstellen und bei der Integration auftreten. Immer dann, wenn wichtige Termine drohen, werden alle (wirklich alle!) Entwickler und die benachbarten Einheiten wie Zentraleinkauf oder RA sehr aktiv, um dann unter Hochdruck doch ein Produkt-Release möglich zu machen.

Neuentwicklung: Unbekanntes und mehr Kollaboration

Ganz anders ist die Situation bei der Neuentwicklung. Ziel ist hier die Entwicklung eines völlig neuen Produkts. Es kann zwar auf bestehenden Produkten basieren, soll aber innovative Funktionen und Technologien beinhalten. Diese umfassende Aufgabe reicht von der Ideenfindung über die Konzeptentwicklung und das technische Design bis hin zur Neu-Zulassung und Markteinführung. 

Der Umgang mit technischen oder methodischen Unsicherheiten, unscharfen Anforderungen oder sich ändernden Randbedingungen gehört dann zum Alltag. Das Team muss sich viel mehr abstimmen, mittelfristig planen, ohne aber die langfristigen Ziele aus dem Auge zu verlieren; es muss mit anderen Bereichen zusammenarbeiten, auch wenn es für diese Fälle keine Formblätter oder Ticket-Systeme gibt. Genau diese Tugenden sind es, die von agiler Produktentwicklung unterstützt werden.

Die Herausforderungen in der Produktneuentwicklung unterscheiden sich deutlich von denen in der Produktpflege. Teams, die lange Zeit in letzterem tätig waren, müssen diese Art von Entwicklung wieder erlernen und brauchen insbesondere ein anderes Mindset, um erfolgreich zu sein: bewusst Risiken eingehen und Irrtümer in Kauf nehmen sowie Termine, Qualität und Scope kontinuierlich gegeneinander abwägen.

Lösungsansätze durch agile Produktentwicklung

Nach meiner Erfahrung bietet die agile Produktentwicklung effektive Lösungsansätze, die viele der täglichen Probleme in der Produktneuentwicklung adressieren: 

  1. Der konsequente Einsatz agiler Methoden verbessertdie Zusammenarbeit und Kommunikation innerhalb der Teams.
  2. Die agilen Methoden erhöhen die Transparenz über den Projektfortschritt oder Blockaden innerhalb des Teams.
  3. Gleichzeitig ermöglichen sie eine bewusste Projektsteuerung, mit Adaption von Planung und Priorisierung der Arbeiten nach Business Value und Risk Exposure.

Mehr zum Thema agile Produktentwicklung

  • Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Disziplinen

    Es sind nicht nur Elektronik, Softwareentwicklung und Mechanik, die nahtlos zusammenarbeiten müssen, was für sich schon zu Kommunikationsproblemen und Koordinationsaufwand führt. Es schließt ebenso die Spezialisten aus Requirements Engineering, QM, Regulatory Affairs, Einkauf, Fertigung, Clinical Research, usw. ein.

    Wichtig ist es, Silo-Denken in Gewerken und Abteilungen unbedingt zu vermeiden. Ein Setup in interdisziplinären Teams mit Verantwortung (im doppelten Sinne von Accountability und Authority) für das Erschaffen von Teilfunktonen ist ein guter Ansatz, bricht aber oft mit gewachsenen Strukturen in einer Organisation.

  • Die zwei Leitlinien der agilen Produktentwicklung

    One Team: 

    Es ist die Aufgabe des Leaderships, dass alle Beteiligten das Projekt als ihre „Heimat“ betrachten. Als Führungskraft auf jeder Ebene ist es wichtig, nicht nur klare Ziele und Visionen sondern auch das eigene Commitment zu kommunizieren: 

    • Die Geschäfts- oder R&D-Leitung für das Gesamtvorhaben
    • Die Produktmanager für den fachlichen Benefit, den das Produkt in den ersten Versionen bringen wird
    • Die Projektleiter und Architekten für die anstehenden Entwicklungsetappen und Lösungswege
    • Die Team-Leads für die Verteilung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten in den Teil-Teams

    One Project: 

    Ein weiterer elementarer Baustein, um das Commitment des Teams zum Entwicklungsvorhaben zu erreichen, ist die klare Zuordnung der einzelnen Personen zu dem Team. Zentrale Rollen sollten überwiegend nur mit diesem einem Projekt beauftragt sein. Denn: Wer nur 50% oder 60% dem Projekt zugeteilt ist, wird auch nur mit halbem Herzen dabei sein.

    Es finden sich dann immer andere „noch wichtigere“ Aufgaben und Gründe, warum man nicht wie vereinbart am Projekt arbeiten konnte. Solche Mitarbeiter werden dann eher zu Zuschauern (ähnlich der Fabel vom „Chicken and Pig“, die auch oft in Erklärungen zu Scrum genutzt wird). 
     

  • Prioritäten und Qualitäts-Ansprüchen reifen

    Eine Produktneuentwicklung durchläuft Phasen mit sehr unterschiedlichen Reifegraden und damit auch Zielsetzungen. Zu Beginn sind vor allem Konzepte und Machbarkeit wichtig, es geht um eher grundsätzliche Einschätzungen.  Später sind es punktuelle, aber sehr tiefgehende Untersuchungen und Design-Spikes. Dann wieder kommt eine Phase der breiten funktionalen Umsetzung; bevor die Arbeiten zuletzt dazu übergehen, das Produkt reif für die Serienfertigung zu machen.

    Es ist wichtig, alle im Team kontinuierlich für diese unterschiedlichen Ziele zu motivieren und so sicherzustellen, dass alle an einem Strang ziehen und die gemeinsame Richtung kennen. Die Richtung, beispielsweise in Bezug auf Lieferantenqualifizierung vs. Rapid Prototyping, Re-Use alter Bibliotheken vs. neuer Software-Frameworks, usw. muss allen immer klar sein. Eine einmalige Ankündigung oder die Dokumentation im Entwicklungsprozess sind dafür nicht ausreichend. Entscheidend im Alltag der Entwickler sind eine klare inhaltliche und methodische Führung sowie eine kontinuierliche Kommunikation.

  • Planung und Transparenz

    Gerade in diesem Bereich haben sich agile Methoden in meinen Projekten als sehr effektiv erwiesen. Frameworks wie SAFe® ermöglichen es auch in großen Projekten, dass mehrere Teams aufeinander abgestimmt handeln und dass Fortschritte, Ergebnisse oder Hindernisse kontinuierlich sichtbar sind. Ein strukturierendes Projektmanagement, Mitigation der Projektrisiken, kontinuierliche technische Integration, der Einsatz von Planungstools und nicht zuletzt Disziplin sind unumgänglich.

  • Sense of Urgency

    Entwicklungsvorhaben mit mehreren Jahren sind für viele Beteiligte eine zu lange Zeitspanne. Die Projektziele und das fertige Produkt sind in zu weiter Ferne und subjektiv nicht greifbar. Vor diesem Hintergrund hat es sich bewährt, große Entwicklungsvorhaben in mehrere, größere Etappen von 6 - 12 Monaten Dauer mit greifbaren Zwischenergebnissen zu schneiden.

    Beispielsweise könnte zuerst die Absicherung der technischen Machbarkeit mit Labormustern ein Etappenziel sein, dann im zweiten Schritt ein Funktions-Prototyp für die Hauptfunktionen, usw. Auch der Weg zu diesen Etappenzielen wird mit Zwischenzielen (Sprints und Produkt-Inkrementen) geplant, zu denen immer wieder das gesamte Projektteam Zulieferungen beisteuern muss. So können Motivation und Fokus, gemeinsames aktives Handeln und schnelle Entscheidungsfindung aufrechterhalten werden.

Die Kunst des Neuanfangs

Für Zühlke gehören große Entwicklungsprojekte zum Alltag. Als Client Manager erlebe ich es deshalb jeden Tag, wie leicht es unseren Teams fällt, immer wieder in unbekannte Gewässer aufzubrechen. Durch unsere zahlreichen Projektstarts sehen wir, dass wir neue Projekte erfolgreich gestalten können, und haben Vertrauen in unsere Methoden, unsere Prozesse und unser Wissen. Umso mehr fällt mir auf, wenn Teams auf Kundenseite oder bei anderen Lieferanten mit genau diesen Herausforderungen ringen.

Ich sehe hier großes Verbesserungspotenzial für die Prinzipien der agilen Produktentwicklung. Wir erleben den Erfolg dieser Methoden alltäglich und können diese Erfahrung auch für die Teams unserer Kunden erlebbar machen: durch die Zusammenarbeit mit unseren Projektteams, in gemeinsamen Setups mit den Entwicklern des Kunden oder durch gezieltes Coaching. 

Der bewusste Einstieg in eine agile Produktentwicklung lohnt sich besonders für Unternehmen, die Innovation wieder systematisch ermöglichen wollen. Es liegt aber an der R&D-Leitung oder auch der Geschäftsführung, die Veränderung rechtzeitig anzustoßen und die Schritte gemeinsam zu gehen.