8 Minuten Lesezeit Mit Insights von Dr. Stefan Weiß, MBA Principle Business Consultant stefan.weiss@zuehlke.com Die Menge der globalen Gesundheitsdaten nimmt dramatisch zu. Dies bringt viele Vorteile mit sich, wie z.B. verbesserte Forschungsmöglichkeiten, wirft aber auch weitere Bedenken hinsichtlich grundlegender Fragen zur Verwaltung und Sicherheit der Daten auf. Verteilte Ledger-Technologien könnten eine Lösung bieten, von der alle Parteien profitieren könnten. Die Menge der Gesundheitsdaten nimmt weltweit dramatisch zu. Während wir im Jahr 2013 etwa 153 Exabyte an Gesundheitsdaten generiert haben, wird diese Zahl bis 2020 voraussichtlich um das 15-fache auf bis zu 2.314 Exabyte ansteigen. IBM geht davon aus, dass sich die weltweit generierten Gesundheitsdaten bis 2020 alle 73 Tage verdoppeln werden. Dies bringt eine Menge Vorteile mit sich, wie z.B. verbesserte Forschungsmöglichkeiten und eine präzisere, effektivere und effizientere Diagnostik. Umgekehrt wirft dies aber auch grundlegende Fragen der Datensicherheit auf – sowohl im derzeitigen System als auch an der Verwaltung unserer Gesundheitsdaten. Obwohl fast alle Beteiligten am Gesundheitssystem – von den Patienten bis hin zu den Unternehmen der Pharmaindustrie – von einem besseren Zugang zu Gesundheitsdaten profitieren könnten, scheuen sie davor zurück, diese Daten zu teilen. Das liegt natürlich vor allem an den Unsicherheiten, wie diese Daten behandelt werden, welche Parteien darauf zugreifen und zu welchem Zweck. Dazu kommt, dass eine wichtige Frage oft nicht ganz klar ist: Wem gehören unsere Gesundheitsdaten überhaupt? Während die Antwort auf diese Frage von Land zu Land unterschiedlich ausfällt, ist die Unkenntnis über die Zugangsrechte zu Gesundheitsdaten offenbar ein allgegenwärtiges Problem. In den USA zum Beispiel sind die Gesundheitsdaten rechtmäßiges Eigentum des Patienten, aber den Ärzten anvertraut. Trotz der Anstrengungen, die einige Länder derzeit unternehmen, um die vorherrschenden Probleme zu lösen - zum Beispiel die elektronische Patientenakte in Deutschland - sind die Gesundheitsdaten derzeit oft ziemlich fragmentiert. Ärzte können beispielsweise nur auf die Daten zugreifen, die sie selbst erhoben haben (entweder durch Untersuchungen oder durch von ihren Patienten zur Verfügung gestellte Aufzeichnungen). Diese medizinischen Daten können nicht einfach mit den anderen Ärzten eines Patienten ausgetauscht werden, sowohl aus regulatorischen Gründen als auch wegen der mangelnden Interoperabilität der gängigen Systeme. Folglich gibt es kaum Möglichkeiten, im Falle eines medizinischen Notfalls auf wesentliche Patientendaten zuzugreifen. Die Datensicherheit ist ein weiteres Thema im gegenwärtigen System. Datenmanipulation (z.B. im Zusammenhang mit dem NHS) sowie erhebliche Datenverstöße geben Anlass zur Sorge: zwischen 2009 und 2017 wurden mehr als 176.709.300 Gesundheitsdatensätze aufgedeckt oder gestohlen; heutzutage werden täglich neue Verstöße im Gesundheitswesen gemeldet. Wir halten dies aus zwei Gründen für beunruhigend: Erstens sind Gesundheitsdaten hochsensibel. Es ist daher von hoher Relevanz, nicht nur zu wissen, wer diese Daten sehen kann, sondern auch, wer sie verändern kann. Zweitens bergen unsere Gesundheitsinformationen ein hohes Potenzial – sowohl für finanzielle Gewinne als auch für die Disruption des Gesundheitswesens. Während viele Unternehmen nach Möglichkeiten suchen, diese Daten zu sammeln und nutzbar zu machen, ist der Patient, der die Daten zur Verfügung stellt, fast nie Teil der Gleichung und wird entsprechend nicht dafür entschädigt. Tatsächlich werden Patientendaten von den Unternehmen als eines der wertvollsten Güter angesehen. Überraschenderweise sind es gerade Technologieunternehmen, die erste Ansätze verfolgen, um den Patienten das Eigentum an den Gesundheitsdaten zurückzugeben. Big Tech richtet Marktplätze für Gesundheitsdaten ein Apple arbeitet beispielsweise mit dem Startup Health Gorilla zusammen, um diagnostische Daten, z.B. von Bluttests, auf das iPhone zu übertragen, indem es u.a. mit Krankenhäusern und Labortest-Unternehmen zusammenarbeitet. Ziel ist es, einen Marktplatz für Gesundheitsdaten für iPhone-Nutzer zu schaffen. Alphabet betritt mit seiner Einheit Verily den Gesundheits- und Versicherungssektor. Und mit seinen Connected Care Solutions bietet Philips einen intelligenten Gesundheitsdienst an. Im Kern zielen all diese Initiativen darauf ab, die Interoperabilitätslücke zwischen verschiedenen Parteien innerhalb des Gesundheits-Ökosystems - insbesondere zwischen Patienten und Krankenhäusern - zu schließen. Ungeachtet der erheblichen Vorteile solcher Initiativen bleibt ein zentrales Problem bestehen: Mit Hilfe dieser Systeme geben Patienten ihre Daten an Dritte weiter und entziehen sich damit ihrer Kontrolle. Obwohl digitale Gesundheitslösungen erhebliche Vorteile haben können, können wir uns nur vorstellen, wofür - neben der Behandlung von Patienten - diese Daten verwendet werden. Wir glauben daher, dass wir ein System brauchen, das Vertrauen zwischen allen Parteien schafft; ein System, das es den Patienten ermöglicht, ihre Gesundheitsdaten ohne Unannehmlichkeiten auszutauschen, indem es Transparenz schafft. Eine dezentralisierte Perspektive durch DLT-Lösungen Stellen wir uns eine Welt vor, in der die Patienten die volle Kontrolle über ihre medizinischen Daten haben. Zwar gäbe es keinen Vermittler mehr, der diese Daten verwaltet, aber es ist unwahrscheinlich, dass Patienten sie lokal, z.B. auf einer Festplatte, speichern würden. Schließlich möchten wir vielleicht, dass unsere Ärzte auf unsere Gesundheitsakte zugreifen können, ohne dass sie physisch vorbeischauen oder sie über eine unsichere Verbindung senden müssen. Darüber hinaus wollen wir, dass diese Daten im Notfall zugänglich sind. Stellen wir uns also ein dezentralisiertes, zugängliches System für unsere Gesundheitsdaten vor. Distributed-Ledger-Technologien (DLTs) wie beispielsweise Blockchain könnten eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung eines solchen Systems spielen, indem sie sichere Transaktionen ermöglichen, auf die alle beteiligten Parteien vertrauen können. Das bedeutet nicht unbedingt, dass alle Daten direkt auf einer Blockchain gespeichert werden. Tatsächlich unterscheiden wir zwei Arten von Informationen: “on-chain”-Daten werden direkt auf einer Blockchain gespeichert, die damit auch die einzige Datenquelle ist, während "Off-Chain"-Daten Links in die Blockchain haben, die die Identifizierung und Verifizierung von Informationen ermöglichen sowie bei der Verschlüsselung hilft. Die Daten sind aber in einer herkömmlichen Datenbank gespeichert. Off-Chain-Lösungen ermöglichen dabei umfangreichere medizinische Details und die Speicherung beliebiger Datenformate und -größen, sind aber auch mit weiteren Anforderungen wie zusätzlichen Integrationsschichten verbunden. Welche Lösung die praktikabelste ist, hängt vom genauen Anwendungsfall und der Zielsetzung ab. Der estnische Ansatz Das estnische E-Health-System ist wahrscheinlich das bedeutendste Leuchtturmprojekt im Zusammenhang mit blockchainbasierten Patientenakten. Das dortige elektronische Gesundheitssystem ermöglicht eine große Interoperabilität und Datenzugriff für Patienten, Ärzte, Krankenhäuser sowie die Regierung und gewährleistet gleichzeitig Datenintegrität und Risikominderung, wobei die Blockchain als Transaktionsschicht fungiert. Mit diesem System hat Estland landesweit 99% der Gesundheitsdaten digitalisiert und wickelt die gesamte Gesundheitsabrechnung elektronisch ab. Dadurch, dass nicht alle Gesundheitsdaten on-chain gespeichert werden, sondern ein gemischter Ansatz aus on- und off-chain Daten verwendet wird, entsteht ein sicheres und manipulationsgeschütztes Register, das alle Datenzugriffe und -änderungen inklusive des Zeitpunkts erfasst. Auf diese Weise hat Estland ein System aufgebaut, das kostengünstig, nachhaltig und hocheffizient ist. Die Vorteile der DLT für Gesundheitsdaten Wie auch immer die genaue Architektur einer solchen blockchainngestützten Lösung aussehen mag, wir sehen einige allgemeine Vorteile der Technologie für Gesundheitsdaten: Befähigung der Patienten: Ein dezentralisierter Ansatz würde es Patienten ermöglichen, die Entscheidungen über den Zugang zu ihren Daten zu selbst treffen. Dies umfasst nicht nur Krankenhäuser und Kostenträger, sondern kann auch die klinische Forschung und pharmazeutische Unternehmen einschließen. Patienten könnten dann entscheiden, ob sie die Daten kostenlos zur Verfügung stellen oder sie für bestimmte Zwecke wie beispielsweise die Forschung verkaufen wollen. Dies schafft nicht nur neue Anreize innerhalb des Gesundheits-Ökosystems, sondern ermöglicht auch einen breiteren Zugang zu den Daten, z.B. für Forschungs- und Kontrollgruppen. Damit wird ein Marktplatz für Gesundheitsdaten geschaffen, auf dem der Patient nicht länger das Produkt, sondern ein gleichberechtigter Marktteilnehmer ist. Wir glauben, dass diese neu gewonnene Macht und dieses Vertrauen die Bereitschaft der Patienten erhöhen wird, weitere Gesundheitsdaten, z.B. von immer besser werdenden Gesundheits- und Fitnesstrackern, zu teilen. Interoperabilität schaffen: Das estnische E-Health-System zeigt, wie eine verstärkte Interoperabilität zwischen verschiedenen Teilnehmern innerhalb des Gesundheits-Ökosystems zu einem schnelleren, effizienteren und kostengünstigeren System führen kann. Darüber hinaus erhalten Ärzte einen vollständigeren Überblick über die Patienten und können so die Behandlung optimieren. Während es in Estland ein kollektives System gibt, können Unternehmensinitiativen in diesem Bereich zu einer Vielzahl von DLT-basierten Systemen auf dem Markt führen. Daher ist es wichtig, auch die Interoperabilität der verschiedenen DLT-basierten Systeme sicherzustellen. Ergebnisbasierte Zahlung: Ein interoperables System ermöglicht auch vergleichende Bewertungen von Behandlungsergebnissen. Dementsprechend könnte die Kostenerstattung im Gesundheitswesen an die tatsächlichen Behandlungsergebnisse geknüpft werden und so die Grundlage für eine wertorientierte Versorgung bilden. Dabei könnten auch betrügerische Praktiken leichter aufgedeckt werden. Deloitte schätzt den weltweiten Betrug im Gesundheitswesen auf über 270 Milliarden Dollar. Verbesserung der klinischen Forschung: Gegenwärtig gibt es immer noch einen Mangel an Wissen über die Möglichkeiten klinischer Studien und kaum Anreize für Patienten, ihre medizinischen Informationen weiterzugeben, außer für kranke Patienten, die mit dem fraglichen Medikament behandelt und geheilt werden wollen. Neben dem Zugang zu Daten für medizinische Forschungszwecke könnten Forscher auch wichtige historische, anonymisierte Datensätze leichter finden. Die ersten Schritte der Pharmaindustrie im dezentralisierten Handel mit Gesundheitsdaten Roche Diagnostics zum Beispiel hat sich mit Ocean Protocol zusammengetan, um eine sichere Echtzeit-Übertragung privater medizinischer Daten zu ermöglichen. In einem Pilotprojekt mit 150 Patienten wollen sie den Austausch kritischer Blutwerte vom Patienten-Selbstüberwachungsgerät CoaguChek INRange mit Krankenhäusern automatisieren. Dabei garantiert die Blockchain die Integrität und Provenienz der Daten und gewährleistet Nachvollziehbarkeit und Vertrauen. Roche und Ocean Protocol gehen mit ihrem Projekt einen Schritt in Richtung eines dezentralen Marktplatzes für Gesundheitsdaten. DLT ist kein Allheilmittel für die Integration des Gesundheitssystems und die Datenstandardisierung. Es birgt zwar ein hohes Potenzial für die Lösung der aktuellen Probleme des Systems, aber weder sind die regulatorischen Anforderungen für dieses neue Modell in den meisten Ländern ausreichend geklärt, noch haben alle verfügbaren Distributed-Ledger-Technologien einen Reifegrad, in dem sie für den Einsatz in großem Maßstab geeignet sind. Dessen ungeachtet haben wir es derzeit mit einem immer komplexeren - manche könnten sogar sagen, disfunktionalen - Markt zu tun, der die Erforschung neuer, stärker kooperativer Modelle erfordert. DLT, insbesondere Blockchain, kann es uns ermöglichen, ein System zu schaffen, das durch Vertrauen und gegenseitigen Nutzen definiert ist. Für pharmazeutische Unternehmen mag dies zunächst als großer Aufwand und Mentalitätswandel erscheinen, aber die Möglichkeit, auf so große Mengen unterschiedlicher Datensätze zugreifen zu können, würde auch enorme Möglichkeiten für die klinische Forschung und schließlich für bessere Behandlungsergebnisse mit sich bringen. Ansprechpartner für Deutschland Dr. Stefan Weiß, MBA Principle Business Consultant Dr. Stefan Weiss ist Principle Business Innovation Consultant bei der Zühlke Gruppe und verfügt über breites Hintergrundwissen in den Neurowissenschaften kombiniert mit einer breiten Expertise in Geschäftsmodellen und Innovationsmanagement. Vor seiner Zeit bei Zühlke, gestaltete Stefan die Zukunft von Healthcare und Life Sciences im Innovationszentrum der Merck KGaA aktiv mit. Mit Leidenschaft treibt er die Digitalisierung der Pharma- und MedTech-Industrie mit Fokus auf innovative Geschäftsmodelle voran, bei denen er seine wissenschaftliche und wirtschaftliche Expertise optimal anwenden kann. Bei Zühlke erweitert er die technische Exzellenz um domänenspezifisches Know-How und stärkt damit die Partnerschaften mit Pharma- und MedTech-Kunden. Kontakt stefan.weiss@zuehlke.com +49 89 262 041 401 Schreiben Sie uns eine Nachricht You must have JavaScript enabled to use this form. Vorname Nachname E-Mail Telefonnummer Message Absenden Bitte dieses Feld leer lassen Schreiben Sie uns eine Nachricht Vielen Dank für Ihre Nachricht.