Life Science und Pharma

Pharma meets Digital: Mehr als Risiken und Nebenwirkungen

8 Minuten Lesezeit
Mit Insights von

  • Beim „Executive Management Forum“ in Eschborn kamen ausgewählte Experten und Vordenker aus dem Pharma- und Technologiesektor zusammen, um über die Digitalisierung der Pharmabranche zu diskutieren. 

  • Das Ergebnis der Diskussion: Der Pharmaindustrie geht es sehr gut, aber sie steht vor großen Herausforderungen.

  • Prof. Dr. Oliver Gassmann von der Hochschule St. Gallen plädierte in diesem Zusammenhang dafür, Innovation auf breiter Ebene zu integrieren und sie nicht auf isolierte und spezialisierte Abteilungen zu beschränken. 

“Digitalization in the Pharmaceutical Industry” – unter diesem Motto kamen am 21.05. im Zühlke Innovation Campus in Frankfurt/Eschborn Entscheider aus dem Healthcare-Sektor und der Technologiebranche zu einem Executive Management Forum zusammen. Das Ergebnis war ein Abend mit spannenden Diskussionen und wertvollen Insights für alle Beteiligten.

Der Plan: Drei Perspektiven zusammenbringen, die gemeinsam digitale Lösungen für die Pharmaindustrie erarbeiten. Mit dabei waren ausgewählte Experten und Vordenker aus dem Pharma- und Technologiesektor, Zühlke als interdisziplinärer und branchenübergreifender Umsetzungspartner für Digitalisierungs- und Innovationsprojekte sowie Microsoft als Treiber für Schlüsseltechnologien in der Digitalisierung, wie z.B. Cloud Computing, Mixed Reality oder AI. Das Ziel war es, ein gemeinsames Bild zu zeichnen und die folgenden brennenden Fragen zu beantworten: Wie ist die aktuelle Situation der Pharmaindustrie innerhalb der Digitalisierung? Wo liegen Chancen für die Pharmaindustrie? Und welchen Herausforderungen muss sich die Pharmaindustrie auf dem Weg dorthin stellen?

Das Programm:

  • Impulsvortrag Prof. Dr. Oliver Gassmann (Universität St. Gallen) zum Effizienz-Dilemma der Pharma-Industrie: Steigende Ausgaben für R&D bei sinkenden Zulassungen für neue Medikamente.
  • Impulsvortrag Dr. Benjamin Kreck (CTO Intelligent Cloud bei Microsoft Germany) zu den Schlüsseltechnologien der Digitalisierung für die Pharmaindustrie.
  • Diskussion mit Prof. Dr. Oliver Gassmann, Dr. Jens Atzrodt (Head Hub Management Office, Sanofi German R&D Hub), Dr. Benjamin Kreck, Murat Vurucu (Managing Director & Co-Founder Latentine) und Arne Flick (CEO IOT1 Academy/IOTA Foundation).

Das Ergebnis: Ein einheitliches Bild von der Pharmaindustrie gibt es nicht. Wenn es Einigkeit gibt, dann in einem Punkt: Der Pharmaindustrie geht es sehr gut, aber sie steht vor großen Herausforderungen. Andererseits bieten sich ihr auch neue Chancen, wie beispielsweise ein Evolutionssprung in der Entwicklung neuer Wirkstoffe und Services, unter anderem vorangetrieben durch interdisziplinäre Technologien, digitale Innovationen und für die Branche bisher neue patientenzentrische Ausrichtung der Customer Journey.

Wo steht die Pharmaindustrie heute?

1. Chronische Erkrankungen stärker im Fokus 
Einig sind sich die Teilnehmer auch an einem weiteren Punkt: Es gibt viele Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft, die neue Herausforderungen mit sich bringen. Dazu gehört vor allem eine zunehmend ältere Gesellschaft. Eine Folge, die sich schon heute abzeichnet: Der Fokus im Gesundheitswesen wird sich immer stärker von der Behandlung akut auftretender Krankheiten auf die Behandlung oder sogar Vorbeugung chronischer Krankheiten verlagern.

2. Die Zeit der Blockbustermedikamente geht zu Ende
Ein weiterer Trend: Es wird immer schwieriger und teurer, weitere Blockbustermedikamente zu entwickeln und zuzulassen. Hier verlagert sich der Fokus in Richtung einer Personalized Medicine, also dahin, Medikamente und Therapien stärker auf den individuellen Patienten zuzuschneiden.

3. Es geht auch unreguliert
Noch deutlich mehr disruptives Potenzial für die Pharmaindustrie als die gesellschaftlichen Entwicklungen haben allerdings die neuen Digitalen Player wie Google, Apple oder Amazon, die gerade erst anfangen, sich in dieser Branche zu etablieren. Begünstigt wird das Auftreten dieser neuen Akteure auch dadurch, dass nicht mehr alle Lösungen und Produkte im Healthcare-Sektor zwingend reguliert sein müssen – beispielsweise, wenn es um die Prävention chronischer Erkrankungen geht.

4. Healthcare Startups: Low-tech aber nah am Konsumenten
Auffällig ist etwa die zunehmende Anzahl von Startups im Bereich Digital Healthcare. Diese bieten innovative Lösungen vor allem auf dem Gebiet der Diagnostik aber auch zunehmend digitale Lösungen für chronische Krankheiten. Oft geht es dabei um das Coaching von Patienten, beispielsweise per App. Solche Lösungen starten oft sehr low-tech und werden nicht selten von den etablierten Pharma-Riesen belächelt. Allerdings sind sie sehr konsumentennah. Dazu kommt: Startups sind in der Regel sehr schnell darin, ihre Produkte und Services zu adaptieren und weiterzuentwickeln.

5. Big Tech als Konkurrenz zu Big Pharma?
Auf der anderen Seite bekommt Big Pharma immer mehr Konkurrenz durch Big Tech. In der Healthcare-Industrie sind hohe Margen realisierbar – kein Wunder also, dass dieser Sektor ein verlockendes Ziel für Amazon, Apple, Google & Co. ist. Diese Konzerne bringen eine andere, vor allem datengetriebene, Perspektive auf diese Branche mit – und können auch durch ihre Technologiekompetenz und ihre Cross-Industry-Erfahrungen innovative neue Lösungen hervorbringen. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Nutzung von Big Data zur Diagnose von Krankheiten oder, um Value-based Prizing zu ermöglichen. Dazu kommt: Als Plattformanbieter können solche Unternehmen auch das Vertriebsmodell von Big Pharma angreifen und so letzten Endes Einfluss auf die Preisgestaltung nehmen.

Die Antwort?

Die Pharmaindustrie befindet sich in einer spannenden Zeit – was nicht alleine an der Digitalisierung liegt. Das haben die Gespräche und Vorträge auf dem Executive Management Forum klar gezeigt. Doch wie kann die Pharmaindustrie auf diese Herausforderungen reagieren? In der Diskussion standen vor allem zwei Möglichkeiten im Fokus: Zunächst einmal sollten Unternehmen im Healthcare-Sektor neue Technologien bzw. die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen, um effizienter und schneller zu werden. Für Microsoft sind die Schlüsseltechnologien für die Pharmaindustrie dabei Medical IoT, Artificial Intelligence und Quantum Computing.
Gerade im R&D können alle Phasen der Wertschöpfungskette mit digitalen Tools verbessert werden. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Beschleunigung klinischer Studien durch eine effektivere Cohorten-Selektion unter Zuhilfenahme von Data Science. Genauso ist es aber auch möglich, vollständige Laborprozesse zu digitalisieren und so effizienter zu machen.

Dr. Benjamin Kreck talks about the key technologies of digitalization for the pharmaceutical industry.

Digitale Innovation in der Pharmaindustrie

Ob diese internen Effizienzsteigerungen eine ausreichende Antwort auf die Herausforderungen sind, die auf die Pharmaindustrie in den nächsten Jahren zukommen, ist fraglich. Deshalb – und hier waren sich die Referenten und Diskussionsteilnehmer weitestgehend einig – geht es auch darum, die aufkommenden neuen Technologien als Grundlage für neue Geschäftsmodelle zu verwenden. Es geht hier gewissermaßen um die digitale Innovation in der Pharmaindustrie. So können Unternehmen im Healthcare-Bereich ihr Know-how nutzen, um selbst digitale Lösungen für chronische Erkrankungen zu anzubieten – gewissermaßen „services beyond the pill“.

Großes Potenzial für Data Driven Business Models

Doch das größte Potenzial sehen die meisten Teilnehmer in Data Driven Business Models. Ein Beispiel: Pharmahersteller könnten anstelle von Medikamenten ganze Therapien zu einem Fixpreis anbieten. Kostet die tatsächliche Behandlung weniger, gewinnt der Hersteller, kostet sie mehr, verliert er. Die Anbieter eines solchen Geschäftsmodells müssten dabei natürlich sehr gut berechnen können, wie teuer eine Therapie tatsächlich sein wird. Die Grundlage hierfür: Daten und deren Auswertung mittels AI.

Genauso können Daten aber auch selbst zum Geschäftsmodell werden. Zitat: „Ich würde meine anonymisierte Krankengeschichte sofort verkaufen.“ Hier stehen mit Blockchain oder Distributed Ledger gerade interessante neue Ansätze bereit, die eine unverzichtbare Grundlage für solche Geschäftsmodelle bieten können: Vertrauen darin, dass die eigenen Daten sicher sind und nur so eingesetzt werden, wie vereinbart.

Welche Hindernisse gibt es auf diesem Weg?

Das größte Hindernis, auch da waren sich die Diskussionsteilnehmer weitgehend einig, ist die Kultur innerhalb der Pharmaindustrie. Ein Zitat in diesem Zusammenhang: „Wir brauchen eine Firmenkultur im Sprint-Mode, die Währung der Zukunft ist Geschwindigkeit.“ Mehrere Teilnehmer wünschen sich einen ähnlich agilen Pioniergeist wie in der Biotechindustrie.
Wie wichtig die Firmenkultur ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass 70% aller Change-Initiativen in Unternehmen scheitern. Bei 39% davon gilt der Widerstand der eigenen Mitarbeiter als Hauptursache. Überraschend ist aber, dass 33% der Fehlschläge auf das Verhalten des Managements zurückzuführen sind. Die entscheidende Frage lautet deshalb: Wie kann die Pharmaindustrie eine Kultur schaffen, in der digitale Innovationen Erfolg haben? Ein Zitat in diesem Zusammenhang: „Einen postpubertären Spielplatz zu generieren reicht nicht aus“.

Zwei Wege zu erfolgreicher Innovation in der Pharmaindustrie

Oliver Gassmann macht hier zwei grundsätzliche Ansätze für erfolgreiche Innovation aus und erläutert, wie diese im Bereich der Pharmaindustrie aussehen könnten: Zum einen den disruptiven Ansatz. Dieser funktioniert in der Regel nicht auf der Unternehmensebene, sondern eher z.B. durch die Gründung eigener Startups. Der andere Ansatz birgt für Gassmann zugleich mehr Potenzial aber auch höhere Hürden: Innovation auf breiter Ebene zu integrieren und sie damit nicht auf isolierte und spezialisierte Abteilungen zu beschränken.

Und so lautet auch die Empfehlung des Innovationsexperten von der Universität St. Gallen: Wir müssen größer denken. Oder, um es auf den Punkt zu bringen:

1. Think big – neue Lösungen müssen vom Ende her gedacht werden. Wie sähe das im gesamten Unternehmen oder sogar in der gesamten Branche aus?

2. Start small – aller Anfang ist schwer. Doch leichter geht es, im Kleinen zu Starten.

3. Fail cheap – je früher wir durch Fehler lernen, umso günstiger sind erste Projekte.

4. Move fast – Fehlschläge werden passieren, das ist garantiert. Deshalb ist es umso wichtiger, sich davon nicht entmutigen zu lassen und gleich wieder von Neuem anzufangen.

Am wichtigsten dabei ist: Unsere Lerngeschwindigkeit muss höher sein als die Geschwindigkeit, in der sich unsere Umgebung verändert. Die gute Nachricht lautet dabei: Die Digitalisierung erhöht nicht nur die Geschwindigkeit, in der sich unsere Umgebung ändert. Sie bietet vor allem auch zahlreiche Möglichkeiten, die eigene Lernkurve steiler zu gestalten.

Ansprechpartner für Deutschland

Jan-Philipp Koch

Principal Business Developer

Als Innovationspartner unterstützt Jan-Philipp Banken und andere Finanzdienstleistungsunternehmen bei der Entwicklung von datengetriebenen Geschäftsmodellen sowie digitalen Lösungen und Prozessen. Er bringt Erfahrungen als Berater aus einer Technologie- und Managementberatung mit und damit umfangreiche Kenntnisse in den Bereichen Data, Machine Learning und Blockchain.

Kontakt
Vielen Dank für Ihre Nachricht.