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Digitalisierung im Gesundheitswesen: Der NHS und seine IT – ein Lösungsvorschlag

In seiner jüngsten Rede auf der NHS ConfedExpo entwarf der britische Gesundheitsminister Wes Streeting eine ambitionierte Zukunft: Der NHS soll endlich digital werden. Ganze 10 Milliarden Pfund sind für diese Transformation reserviert – auch für die Technologie dahinter. Doch der Umsetzung steht ein altes Problem im Weg: Die IT-Landschaft des britischen National Health Service (NHS) ist stark fragmentiert. Und obwohl es in der Vergangenheit viele ehrgeizige Anläufe zur Digitalisierung des NHS gab, blieb ein echter Durchbruch bislang aus.

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Systemfehler im NHS: Warum Integration scheitert – und wie sie gelingen kann

Die britische Regierung will die Gesundheitsversorgung stärker in die Gemeinden verlagern und vermehrt auf prädiktive sowie präventive Medizin setzen. Doch bevor das gelingen kann, muss ein zentrales Problem gelöst werden: Der NHS arbeitet mit zahlreichen IT-Systemen, die inkompatibel sind und deshalb nicht miteinander kommunizieren können.

Trotz einzelner Fortschritte sind Patientendaten häufig in digitalen Silos gefangen. Überweisungen erfolgen noch immer per Papierakte oder Fax. Zwar haben digitale Gesundheitsakten in Regionen wie Greater Manchester und London gezeigt, wie sich die Versorgungsqualität durch bessere Datennutzung steigern lässt – doch ein übergreifender Erfolg ist das noch lange nicht. Es bleibt ein strukturelles Hindernis für jede vorgeschlagene Reform.

Wie soll eine integrierte wohnortnahe Versorgung entstehen, wenn Hausärzt:innen keinen Zugriff auf Krankenhausdaten haben? Wie lassen sich ergebnisorientierte Vergütungsmodelle umsetzen, wenn Daten in inkompatiblen Formaten über unterschiedliche Systeme verteilt sind?

Was wir aus der Vergangenheit lernen müssen

Technologischer Wandel ist in großen Organisationen immer herausfordernd – und der NHS bildet da keine Ausnahme. Das zeigte schon das National Programme for IT (NPfIT): Ursprünglich mit 6,2 Milliarden Pfund angesetzt, kostete es am Ende über 12 Milliarden und lieferte dabei lediglich einen Mehrwert von etwa 2,6 Milliarden Pfund.

Heute können immerhin 67 % der NHS-Kliniken externe Patientendaten elektronisch einsehen – ein Fortschritt, aber bei weitem nicht genug. Die Ursachen liegen dabei nicht im fehlenden Budget oder an technischen Hürden. Das größte Problem sind vielmehr die zentralistischen Ansätze ohne ein übergreifendes Konzept sowie der natürliche Widerstand vieler Fachkräfte, deren Anforderungen nicht berücksichtigt wurden. Die digitalen Gesundheitsakten in einzelnen Regionen zeigen, dass technologische Fortschritte möglich sind – doch solange diese nur punktuell greifen, bleiben Unterschiede bestehen und strukturelle Ungleichheiten bestehen fort.

Auch die laufende Konsultation zur NHS Single Patient Record droht, die alten Fehler zu wiederholen – insbesondere wenn grundlegende Governance-Fragen nicht gelöst werden. Trusts beschaffen weiterhin eigenständig Systeme, während Anbieter sich aus angeblich technischen Gründen gegen Interoperabilität sperren oder für Integrationen hohe Aufpreise verlangen. Freiwillige Standards führen vorhersehbar zu unbefriedigenden Ergebnissen. In all dem ist der Patient oft aus dem Blick geraten – sowohl konzeptionell als auch in der Praxis.

Autonomie und Zusammenhalt zusammen denken

Die aktuellen Pläne zur Stärkung der Foundation Trusts bergen auch gewisse Risiken. Schließlich bedeutet mehr Autonomie für leistungsstarke Einrichtungen auch: mehr Freiheit bei der Systemwahl – und damit womöglich noch mehr IT-Fragmentierung. Ohne verbindliche Vorgaben zur Interoperabilität auf nationaler Ebene droht die digitale Spaltung weiter zuzunehmen. Selbst hochdigitalisierte Trusts könnten dann keine Daten mit Partnern vor Ort oder benachbarten Einrichtungen austauschen – was der Vision der britischen Regierung von einer integrierten Versorgung direkt widerspricht und das Risiko von regionalen Unterschieden bei der Digitalisierung weiter verschärft. Ein schlankes, nationales Gremium für Technologie-Governance mit klaren Standards zum Austausch von Daten könnte diesen Zielkonflikt auflösen und der Vision zum Erfolg verhelfen.

A signpost in a British hospital.

Was echte digitale Transformation erfordert

Hier liegt die große Chance: Die 10 Milliarden Pfund sind zweckgebunden – ein Schutz vor den üblichen Budgetkürzungen – und können diesmal einen echten Wandel zum Besseren ermöglichen. Aber dafür braucht es mehr als neue Pilotprojekte, die an der Skalierung scheitern. Denn Interoperabilität im NHS bedeutet nicht nur, Systeme zu verknüpfen, sondern vor allem: Eine bessere Zusammenarbeit zwischen Menschen und Organisationen.

Was es braucht, ist ein radikaler Kurswechsel:

Erstens: Interoperabilitätsstandards sollten nicht nur empfohlen, sondern verpflichtend sein – mit rechtlich verankerten Sanktionen bei Nichteinhaltung. Die Einhaltung muss an CQC-Zulassungen und Fördergelder gekoppelt sein.

Zweitens: Statt alles zentral zu vereinheitlichen, braucht es eine Plattform-First-Architektur. Sprich: Nationale Plattformen für digitale Identitäten, Terminmanagement, Überweisungen und Testergebnisse, an die alle lokalen Systeme über APIs angebunden werden müssen. So entsteht Verbindlichkeit an den richtigen Stellen – ohne lokale Flexibilität zu verlieren.

Drittens: Das NHS sollte seine jährliche Kaufkraft von rund 8 Milliarden Pfund gezielt einsetzen, um Interoperabilität zur Grundvoraussetzung für Großaufträge zu machen. Noch immer werden 3,4 Milliarden Pfund außerhalb zentraler Beschaffung ausgegeben. Anbieter müssen für die Einhaltung der Standards verantwortlich sein – nicht die Trusts.

Und schließlich: Eine regionale Digitalbehörde könnte NHS-Regionen die nötige Autorität und Mittel geben, um bewährte digitale Strategien umzusetzen und zu koordinieren. Erfolgsbeispiele wie in Manchester oder London sollten gezielt repliziert werden – nicht dem Zufall überlassen bleiben. Diese Behörde sollte auch die Befugnis haben, unpassende Beschaffungen zu blockieren und so regionale Bedürfnisse mit übergreifender Kohärenz zu verbinden.

Von internationalen Erfolgen lernen

Andere Länder zeigen, wie es gehen kann. Dänemark hat Interoperabilität per Gesetz durchgesetzt – mit verpflichtenden Standards für die Datenübermittlung und finanziellen Sanktionen bei Nichteinhaltung. Das hat es innerhalb eines Jahrzehnts möglich gemacht, dass Krankenhäuser, Hausärzt:innen und Apotheken Patientendaten untereinander austauschen können. Estland geht sogar noch weiter: Dort gibt es eine zentrale elektronische Gesundheitsakte, auf die alle medizinischen Einrichtungen über eine sichere, digitale Gesundheits-ID zugreifen können – für sämtliche Bürger:innen.

Beide Länder zeigen: Nicht technologische Überlegenheit war ausschlaggebend, sondern regulatorischer Druck.

Auch im NHS liegt das Problem nicht in der Technik: Standards wie FHIR – oft als der wichtigste Interoperabilitätsstandard seiner Generation bezeichnet – existieren längst. Die eigentliche Herausforderung ist, ob die Regierung bereit ist, die unbequemen, aber nötigen Entscheidungen zu treffen. Dazu gehört, Anbietern ohne echte Interoperabilität den Zugang zum NHS-Markt zu verwehren, selbst wenn diese technische Schwierigkeiten anführen. Und es bedeutet, Trusts klarzumachen, dass nationale Standards ihre IT-Freiheit begrenzen. Ohne diese Entscheidungen bleibt der aktuelle Zustand mangelnder Effizienz im Gesundheitswesen bestehen. Denn schlecht integrierte IT zwingt medizinisches Personal zu mehrfachen Logins, doppelter Dateneingabe und zeitraubender Informationssuche – und verhindert jede echte Effizienzsteigerung.

Produktivität beginnt beim Systemdesign

Streeting will die Effizienz des NHS steigern. Doch ohne integrierte IT bleibt das eine Illusion. Ärzt:innen verschwenden Zeit mit Mehrfacheingaben, Systemwechseln und der Suche nach Informationen. Eine echte Transformation braucht mutige Schritte – und eine zentrale Steuerung. Man kann Arbeitsabläufe nicht optimieren, wenn die digitale Infrastruktur systematisch gegen Effizienz arbeitet.

Derzeitige Beschaffungsgesetze und freiwillige Frameworks reichen nicht. Es braucht klare Regeln, Anreize und Konsequenzen. Der Markt hat bislang keine funktionierende Interoperabilität hervorgebracht. Deshalb braucht es regulatorische Eingriffe für einen Erfolg. Sonst entstehen digitale Parallelwelten, in denen private Anbieter dank integrierter Plattformen personalisierte, datengestützte Versorgung bieten – während der NHS an der grundlegenden Weitergabe von Daten scheitert. Die Zwei-Klassen-Versorgung, vor der die Politik warnt, droht nicht nur wegen finanzieller Unterschiede, sondern wegen digitaler Rückstände Realität zu werden.

Worum es wirklich geht

Streetings Vision baut auf vorhandenen Fortschritten auf – und adressiert bekannte Schwächen. Der Digitalfonds von 10 Milliarden Pfund ist eine historische Chance, um die dringend benötigte digitale Integration im NHS systematisch voranzutreiben. Entscheidend wird sein, Investitionen mit klaren Governance-Strukturen zu kombinieren, die lokalen Innovationsspielraum mit übergreifender Kohärenz verbinden. 
Die Erfahrung zeigt: Ohne kontinuierliches politisches Engagement über Legislaturperioden hinweg, klare Anreizsysteme und verbindliche Standards verpuffen Reformen oft wirkungslos. 

Heart graffiti for the NHS.

Zudem stehen neue technologische Entwicklungen wie KI, personalisierte Medizin und prädiktive Analytik in den Startlöchern – ihr Erfolg hängt unmittelbar von der Qualität und Verfügbarkeit integrierter Daten ab. Wenn der NHS diese Chance nutzt und seine technischen Grundlagen systematisch und nachhaltig über das gesamte System hinweg umsetzt, kann daraus eine Versorgung entstehen, die wirklich effizient, reaktionsschnell und patientenzentriert ist. Die Grundlagen sind vorhanden – jetzt gilt es, sie mit langfristiger Perspektive zu skalieren.

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Quellen:

  1. Dolfing, H. (2019). "Case Study 1: The £10 Billion IT Disaster at the NHS." Available at: https://www.henricodolfing.com/2019/01/case-study-10-billion-it-disaster.html
  2. Takian, A., et al. (2017). "The UK's National Programme for IT: Why was it dismantled?" Health Policy and Technology, 6(2), 251-259.
  3. House of Commons Committee of Public Accounts. (2024). "NHS Supply Chain and efficiencies in procurement." Available at: https://publications.parliament.uk/pa/cm5804/cmselect/cmpubacc/453/report.html
  4. Digital Health. (2018). "Interoperability now the top priority for NHS IT Leaders." Available at: https://www.digitalhealth.net/2018/07/interoperability-now-the-top-priority-for-nhs-it-leaders/
  5. Sheikh, A., et al. (2020). "Interoperability in NHS hospitals must be improved: the Care Quality Commission should be a key actor in this process." BMJ Health & Care Informatics, 27(1).
  6. Protti, D. & Johansen, I. (2010). "Building National Healthcare Infrastructure: The Case of the Danish e-Health Portal." In Digital Healthcare: Empowering Europeans (pp. 297-314). Springer.
  7. Estonia's e-Health Initiative. (2025). "Estonian e-Health Records: A Digital Transformation Success Story." Available at: https://e-estonia.com/solutions/e-health/e-health-records/
  8. European Commission Digital Building Blocks. "Estonian Central Health Information System and Patient Portal." Available at: https://ec.europa.eu/digital-building-blocks/sites/pages/viewpage.action?pageId=533365863
  9. Digital Health. (2025). "Most of public think that NHS single patient record already exists." Available at: https://www.digitalhealth.net/2025/05/most-of-public-think-that-nhs-single-patient-record-already-exists/
  10. House of Commons Committee of Public Accounts. (2025). "DHSC Annual Report and Accounts 2023-24." HC 350. Available at: https://publications.parliament.uk/pa/cm5901/cmselect/cmpubacc/350/report.html