7 Minuten Lesezeit Mit Insights von Stefan Dittrich Lead Business Consultant stefan.dittrich@zuehlke.com Dieser Gastbeitrag ist zuerst erschienen in der „Computerworld Top 500 – Das Ranking der Schweizer IT-Szene“ vom 14. September 2023. Was haben der Erdorbit und die Software-Sphäre gemeinsam? Nicht viel, könnte man auf den ersten Blick meinen. Im Erdorbit befinden sich nach Einschätzung der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) mehr als 32 000 Teile Weltraumschrott. Die damit verbundenen Aufwände und Risiken in Bezug auf Sicherheit für Mensch und Material steigen stetig. Ebenso nimmt die kommerzielle und institutionelle Nutzung des Weltraums weiter zu und dadurch auch dessen „Vermüllung“. NASA und ESA diskutieren inzwischen intensiv über Nachhaltigkeitsstrategien bis hin zu einer „Müllabfuhr“ für Weltraumschrott. Auch Software wird immer komplexer und damit werden auch Applikationen und damit ihre Codezeilen weiterhin wachsen. Um ein Gefühl für die Relationen zu bekommen, verdeutlicht David McCandless, Bestsellerautor und Gründer des Blogs „Information is Beautiful“, das mit einer Reihe an Beispielen: Eine einfache Game-App für ein Smartphone benötigt etwa 50 000 Zeilen Code. Der Code für die Software des US-Space-Shuttles belief sich seinerzeit auf rund 400 000 Zeilen. Die Software eines modernen Autos beinhaltet bereits rund 100 Millionen Zeilen Code. Über zwei Milliarden Zeilen Code bedarf hingegen allein Google für seine Internetdienste. Und wer sich noch an das gute alte PacMan-Spiel erinnert: 36 Zeilen Code. Diese Relationen werden sich weiter verschieben. Entwicklungsintensive Software für KI und andere Anwendungen steht nämlich erst ganz am Anfang, wie das Fachmagazin „Technik und Wissen“ in Bezug auf nachhaltige Software feststellt. Swico, der Wirtschaftsverband der ICT- und Online-Branche Schweiz, vermeldet, dass der Wachstumskurs innerhalb der ITC-Branche beibehalten wird – mit Software als Zugpferd. „Applikationen enthalten redundante, unnötige, unerreichbare, tote und deaktivierte Codezeilen, die aber dennoch Rechen- und Speicherleistungen benötigen.“ Überhaupt ist Software – und somit Code – omnipräsent. So zeigt eine aktuelle Studie von Bitkom, dem deutschen Pendant zu Swico, dass jeder Smartphone-Nutzer durchschnittlich 31 Applikationen installiert hat – zusätzlich zu den bereits vorinstallierten Apps. Doch auch hier ist der Zenit noch lange nicht erreicht, gerade mit Blick auf jüngere Generationen. So haben 16- bis 25-Jährige durchschnittlich über 40 Apps auf ihren Smartphones installiert. Der zusammenfassende Schluss: Software und Daten sind allgegenwärtig und immer nutzbar, das ist unser Selbstverständnis als Anwender. Spätestens mit diesem kurzen Blick hinter die Kulissen der Codewelt sollte klar werden, wohin die Weltraum-Analogie führt: Der Platz ist da und lange sind keine „großen“ Anstrengungen unternommen worden, sich darüber Gedanken zu machen, was mit all dem Platz und all dem Müll überhaupt angestellt werden soll. Auch Software produziert nämlich reichlich Schrott: Applikationen enthalten redundante, unnötige, unerreichbare, tote und deaktivierte Codezeilen, die aber dennoch Rechen- und Speicherleistungen benötigen. Einer der Gründe: Heute wird immer mehr auf eine Vielzahl an vorhandenen Frameworks und Bibliotheken zurückgegriffen. So erklärt Swiss Made Software, ein ICT-Label mit über 1100 Träger-Unternehmen aus der Schweiz, dass sich praktisch keine Software mehr entwickeln lasse, ohne diese Tools zu verwenden. Die Leistungs- und Wachstumsfähigkeit bestehender Infrastrukturen wird so auf ganz ähnliche Weise vermüllt wie unser Erdorbit. Gleichzeitig müssen immer mehr neue, leistungsfähigere Rechenzentren gebaut werden, um Daten und Software bearbeiten zu können. Nach einer Studie von Borderstep, einem Institut für Innovation und Nachhaltigkeit, hat sich der weltweite Energiebedarf in Rechenzentren in den letzten zehn Jahren ungefähr vervierfacht. Die IT-Leistung in Rechenzentren hingegen ist von 2010 bis 2020 bereits um fast 84 Prozent gesteigert worden. In den kommenden Jahren soll gemäß Experten nochmal eine Steigerung um rund 30 Prozent erfolgen. Allein in deutschen Rechenzentren soll der Energieverbrauch von 18 Terawattstunden (TWh) im Jahr 2023 auf zwischen 27 TWh und 34 TWh bis im Jahr 2030 steigen, schätzt Bitkom. Aber nicht nur der Verbrauch ist gewachsen. Positiv anzumerken ist, dass auch die Effizienz von Rechenzentren gestiegen ist. Die Rechenkapazität pro verbrauchter Kilowattstunde Strom hat sich seit 2010 fast verfünffacht. Cloud und Data Center sind inzwischen als integrale Teile unserer digitalen Welt nicht mehr wegzudenken. Sie konsumieren rund ein Prozent des weltweiten Strombedarfs und sind für rund 0,3 Prozent unseres weltweiten CO2-Austoßes verantwortlich. Gemäß Kroker’s Look @ IT, einem Blog der Wirtschaftswoche, wird die weltweite Datenmenge im Jahr 2025 rund 163 Zettabyte betragen (das ist eine 163 mit 21 Nullen) oder, ein etwas diesseitigerer Vergleich, rund 500 Mal die Datenmenge aller bei Netflix gespeicherten Serien und Filme. In historischen Relationen: 1956 gab es lediglich 5 Megabyte Datenvolumen. Der Anteil digitaler Technologien an den globalen Treibhausgasemissionen ist seit 2013 von etwa 2,5 Prozent auf 3,7 Prozent angestiegen. Ebenso intensiviert sich die Vernetzung innerhalb von Unternehmen, von Maschinen, zu – privaten wie kommerziellen – Verbrauchern. Aufgrund von Datenvernetzung entwickelt sich die Welt zu einem „globalen Daten-Dorf“. Die digitale Transformation ist im vollen Gange. Produkte und Dienstleistungen werden von immer mehr Technologie unterstützt oder begleitet. Egal, welche digitale Dienstleistungen wir einsetzen, ein Software-Code ist die Grundlage dafür, dass Maschinen Leben eingehaucht bekommen. Nicht nur Hardware ist langsam, sondern auch Software Die Tendenz, dass Applikationen immer „hungriger“ nach Energie und Speicherressourcen oder Rechenleistungen werden und dadurch immer größere Serverfarmen benötigt werden, zeigt eine aktuelle Hochrechnung. Bis zum Jahr 2040 werden digitale Emissionen rund 14 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verursachen. Aktuell ist der IT-Sektor für rund 4 Prozent des globalen Ausstoßes von Treibhausgasen verantwortlich. Der aktuelle „Transport Outlook“ der OECD-Teilorganisation International Transport Forum (ITF) geht in einer Hochrechnung von 2015 bis zum Jahr 2050 davon aus, dass sich der Personenverkehr um das 2,3-Fache und der Güterverkehr um das 2,6-Fache steigern wird. Bei der derzeitigen Entwicklung würde der Personenverkehr bis zum Jahr 2050 um 13 Prozent und der Güterverkehr um 22 Prozent mehr CO2 ausstoßen. Dies würde bedeuten, dass der CO2-Ausstoß damit dreimal höher läge, als zur Einhaltung des im Pariser Abkommen vereinbarten 1,5-Grad-Ziels notwendig wäre. Eine einzelne Codezeile bedarf im Regelfall keiner Aufmerksamkeit durch das Management. Wie so häufig im Leben liegt die Wahrheit im Detail und im Maß: Wie oft werden Anwendungen gestartet oder Rechenoperationen ausgeführt, über deren langsame Geschwindigkeit man sich ärgert? Hier kommt das Konzept Green Coding zum Tragen. Es meint das effiziente Programmieren, das Eliminieren von Redundanzen, das Vermeiden von totem Code. Mit dem Ergebnis, Rechenleistung einzusparen – und damit CO2. Der bisherige Fokus in der IT lag vor allem darauf, stromsparende, effizientere Hardware einzusetzen. Aus der Erfahrung mit einer Vielzahl von Gesprächen mit IT-Verantwortlichen wird deutlich, dass sich das Konzept Green Coding in den Köpfen noch nicht etabliert hat. Dies liegt vor allem daran, dass Hardware greifbarer ist: Stromverbräuche und Prozessorleistungen lassen sich messen und mit geplanten CO2-Einsparungen überprüfen. Software hingegen wird im Regelfall eingekauft, Lizenzen bezahlt und schlicht genutzt. Die Frage, wie viele Codezeilen nun ein aktuelles Betriebs- oder ERP-System hat, stellt sich im Regelfall niemand. Diese Information allein würde Anwendern sicherlich auch keinen großen Mehrwert bringen. Lediglich im Performance-Check wird deutlich, ob die vorhandene Hardware mit der Software „noch zurechtkommt“ oder gegen noch performantere Hardware ausgetauscht werden muss. Der Nachhaltigkeitsgedanke bekommt langsam aber sicher mehr Aufmerksamkeit Auch in der Öffentlichkeit spielt die Idee einer nachhaltigen Software-Entwicklung nur eine untergeordnete Rolle. Software ist ein „Vehikel“, das schnell, fehlerfrei und einfach funktionieren soll. Was und wie programmiert wurde, steht für den Anwender – selbstverständlich – auch nicht im Fokus. Eine Kurzumfrage unter Bitkom-Mitgliedern ergab 2021, dass bei 23 Prozent der befragten Unternehmen das Thema Nachhaltigkeit in Software-Entwicklungs-Projekten gar keine Rolle spielt. Bei 70 Prozent der Unternehmen spielt Nachhaltigkeit lediglich bei bis zu 25 Prozent der Software-Entwicklungs-Projekte eine Rolle. Hingegen zeigt eine Umfrage des Software-Herstellers Salesforce, dass rund 75 Prozent der Programmierer und Software-Designerinnen den Wunsch haben, Anwendungen mit geringerem CO2-Ausstoß zu entwickeln. Unternehmen, wie auch Verwaltungen und private Haushalte erheben und optimieren ihre CO2-Emissionen im Rahmen von Scope-1-, Scope-2-, Scope-3-Emissionen ESG. Doch nachhaltiges Optimieren wird erst dann möglich, wenn auch die Emissionstreiber identifiziert wurden. „Egal, welche digitale Dienstleistungen wir einsetzen, ein Software-Code ist die Grundlage dafür, dass Maschinen Leben eingehaucht bekommen.“ Aus vielen Publikationen lässt sich entnehmen, dass inzwischen Scope 1 und Scope 2 ESG gut bis sehr gut erfasst und analysiert werden können. Doch rund 80 Prozent der CO2-Emissionen können auf Scope 3 ESG entfallen, das auch eine Studie aus dem Jahr 2023 von Swissmem, dem Verband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie sowie verwandter technologieorientierter Branchen, bestätigt. Scope 3 umfasst dabei alle indirekten Emissionen, die innerhalb der Wertschöpfungskette eines Unternehmens entstehen. Damit wird es komplex, den CO2-Anteil für eine Software zu evaluieren. Ein Online-Artikel der com!professional geht davon aus, dass 55 Prozent der verursachten Emissionen in der IT durch die zugrunde liegende Software beeinflusst wird. Durch den intelligenten Einsatz von Green Coding lassen sich also Ressourceneffizenzen realisieren. Noch vor gut zehn Jahren waren Nachhaltigkeitsaspekte und Energieeinsparungen in der IT geringe bis keinerlei Entscheidungskriterien. So gaben seinerzeit in einer repräsentativen Umfrage lediglich 5 Prozent der befragten Unternehmen an, ökologische Aspekte bei IT-Kostenentscheidungen zu berücksichtigen. Wiederum 16 Prozent der befragten Unternehmensverantwortlichen gaben an, dass Klimaschutz nur eine geringe bis gar keine Bedeutung habe. Inzwischen hat sich das Mindset gewandelt: 69 Prozent der IT-Verantwortlichen weltweit nennen die Reduktion der Energiekosten als Hauptgrund für Green-IT-Initiativen. Das Mindset bezüglich Nachhaltigkeitsaspekte und Energieeinsparungen zeigt einen positiven Trend. Jedoch liegt das aktuelle Augenmerk dennoch verstärkt „nur“ auf performanterer Hardware und deren Optimierung. All diese Fakten und Zahlen zeigen: Jede Codezeile und deren Inhalt hat Auswirkungen auf die Umwelt. Indem sich der Nachhaltigkeitsgedanke auch beim Coden etabliert, kann auch der Bereich Software in der ICT-Branche einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten.
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